Wenn du alle Notennamen, Tonleitern, Akkorde, Noten, Rhythmussymbole und sonstige Zeichen auf dem Notenblatt verstehst, was fehlt dann noch, um das Stück spielen zu können?

Richtig: Fingerkontrolle. Und genau darum geht es hier.

Erinnerst du dich, was der Zweck einer Übung ist?

„Der Zweck einer Musikübung ist Muskelwiderstände herauszufinden, diese dann zu reduzieren und schließlich zu beheben.“

Doch wie mache ich das?

Dazu habe ich einen Fragenkatalog zusammengestellt, wobei ich zunächst mit ein paar Mythen aufräumen möchte:

  1. Soll ich Etüden von Czerny oder Hanon üben?

Nein! Sie lösen nicht dein Problem, sondern das Problem von dem, der die Übungen schrieb. Und sie beruhen auf einer mechanistischen Sichtweise. Entdecke deine Muskelwiderstände und entwirf deine eigenen Übungen. Das macht viel mehr Spaß und ist kreativer.

  1. Stimmt es, dass ich immer laut und deutlich spielen soll und dabei die Finger hochheben soll, damit sie „kräftiger“ werden?

Nein! Es ist falsch, zuerst das Stück laut und deutlich zu spielen und erst dann die Kommunikation (Dynamik etc.) hinzuzufügen. Musik ist eine Sprache, und die Kommunikation muss sofort hinzugefügt werden. Das gewohnheitsmäßige laute Spielen führt oft dazu, dass man nicht mehr in die Tasten hineinspürt und unkontrolliert vor sich herhämmert und noch dazu ein steifes Handgelenk bekommt. Außerdem muss man die Finger nur minimal von den Tasten heben.

  1. Was mache ich, wenn ich beim Üben einen Fehler mache?

Freu dich! Dies ist eine Gelegenheit, dich zu verbessern. Gib nicht auf! Erkenne, dass es hier einen Muskelwiderstand gibt, und entwickle eine Übung, um diesen Widerstand zu reduzieren und zu beheben. Du wirst dich exponential verbessern!

  1. Wodurch entstehen Muskelwiderstände?

Es gibt zwei Ursachen. Probleme mit der physischen Kontrolle oder mangelndes Verstehen können Muskelwiderstände hervorrufen und Fehler, Auslassungen oder Verzögerungen bewirken. Entdecke, was es ist, und entwickle eine Übung dafür.

  1. Wann ist eine Übung abgeschlossen?

Viele verwenden Geschwindigkeit, um zu beurteilen, ob eine Übung abgeschlossen ist. Es ist aber in Wirklichkeit schwieriger, eine Übung allmählich zu verlangsamen, während man sie unter Kontrolle hat, als sie zu beschleunigen, während man sie unter Kontrolle hat. Eine Übung kann  in dem Maß als abgeschlossen bezeichnet werden, wie man Kontrolle darüber hat und nicht wie schnell man sie spielen kann.

  1. Was ist der Unterschied zwischen einem Fehler und einer Verzögerung?

Keiner. Eine Verzögerung ist einfach ein Fehler, der darauf wartet zu geschehen.

  1. Wie übe ich, beim Spielen zu kommunizieren?

Das ist eine Schlüsselfrage. Musik ist eine Sprache. Jede Sprache hat nur einen Zweck: Kommunikation. Musik ohne Kommunikation ist nicht anders als Goethe ohne Kommunikation – wozu also? Deswegen verwenden wir Kommunikationsherausforderungen, während wir eine Übung machen und nicht nachdem wir die Übung gelernt haben.

Hier sind ein paar Kommunikationsherausforderungen:

  • Schau dich im Raum um und benenne alle Gegenstände, die weiß sind
  • Schau dich im Raum um und benenne alle Gegenstände, die mit P beginnen
  • Sage das Alphabet rückwärts auf
  • Benenne Tiere mit aufeinanderfolgenden Buchstaben im Alphabet
  • Zähle Mädchennamen auf, die mit dem Buchstaben B beginnen
  • Sag jedes zweite Monate des Jahres rückwärts auf
  • Zähle in 7er-Schritten von den Zahl nach unten
  • Benenne alle Städte in Österreich
  • Benenne Filme/Romane/Schriftsteller, die du magst

Etc. etc. etc.

  1. Welche Übungen kannst du mir empfehlen?

Es gibt  unendliche viele Übungen. Duncan Lorien erwähnt im Musik-Verstehen-Seminare eine große Menge an ausgezeichneten Übungen. Hier ist die grundlegende 5-Finger-Übung mit ein paar Varianten (zunächst für die rechte Hand):

  1. Wähle irgendeine weiße Taste.
  2. Setze den 5. Finger auf diese Taste.
  3. Setze den 4. Finger auf die nächste weiße Taste darunter.
  4. Setze den 3. Finger auf die nächste weiße Taste darunter.
  5. Setze den 2. Finger auf die nächste weiße Taste darunter.
  6. Setze den 1. Finger auf die nächste weiße Taste darunter.
  7. Fahre fort, den 5. Finger auf die weiße Taste, die vorher mit dem 4. Finger gespielt wurde, zu setzen und gehe hinunter bis zum 1. Finger.
  8. Fahre fort, bei jeder Wiederholung den 5. Finger auf die weiße Taste, die vorher durch den 4. Finger gespielt wurde, zu setzen und gehe jedes Mal weiter hinunter bis zum 1. Finger.

Halte exakt die gleiche Zeitspanne zwischen jeder Note, die du spielst, ein. Das Ziel ist nicht Geschwindigkeit. Die Ziele dieser Übung sind: Exaktheit, Entspanntheit und Freiheit von fixierter Aufmerksamkeit. Denke daran, dass am Klavier Finger 5 der kleine Finger ist und Finger 1 der Daumen. Hebe jeden Finger hoch, nachdem du ihn verwendet hast.

Du kannst diese Übung auch mit der linken Hand machen, wobei  du die weißen Tasten hinaufgehst.

Du kannst die Richtung umkehren, sodass die rechte Hand hinaufgeht und die linke Hand nach unten geht.

Du kannst dann einzelne weiße Tasten durch die jeweilige schwarze Taste daneben ersetzen.

Du kannst beidhändig spielen, du kannst in gegengesetzten Bewegungen spielen.

Du kannst die Übung nur mit 4 Fingern machen oder 3 Fingern, du kannst die Abstände ändern, also weiße Tasten auslassen.

Etc. etc. etc.

Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.

  1. Was mache ich, wenn ich weitere Informationen dazu benötige?

Du kannst mir immer gern schreiben. Oder du kannst auch das nächste Musik-Verstehen-Seminar mit Duncan Lorien im Mai besuchen, bei dem Duncan auch ganz besonders auf einfache und effiziente Übungstechniken eingeht. Wir haben dazu übrigens bis 31. Jänner ein Spezialangebot: https://www.musikverstehen.net/aktion

Mit musikalischen Grüßen

Gerd