Am Ende des Workshops „Bach kann jeder“ erkläre ich den Teilnehmern, wie sie effektiv üben können. Ich bespreche das bis ins kleinste Detail mit ihnen, wie sie ein Stück lesen, erst ohne Ton und zuletzt mit Ton üben. Ich versuche wirklich das alles mit voller Überzeugung  in die Köpfe der Teilnehmer einzuhämmern.

Und dann bekam ich von Volker eine Erkenntnis, die mir fast den Atem zum Stocken brachte.

Er meinte: „Ich liebe Bach, ich spiele gern Bach am Klavier. Doch ich habe immer nur drübergehudelt. Das war für mich frustrierend und auch für meine Frau, die meinte, sie könne das nicht mehr hören. Ich werde ab jetzt wirklich so üben, wie du es beschrieben hast.“

Der Grund, warum mich diese plötzliche Realisierung so betroffen hat, war, weil ich das bei mir und bei vielen schon beobachtet habe, aber es nicht auf diesen einen Faktor oder dieses 1 Wort herunterbrechen konnte. Allerdings erinnere ich mich gerade, dass mir dies sogar einmal mein Onkel vorgeworfen hat, der selbst Orchesterdirigent war. „Tu nicht so drüberhudeln“, kritisierte er, „spiel das sauber.“ Dabei war ich so stolz, diesen Walzer in halbwegs akzeptablem Tempo spielen zu können.

Es ist fast eine Epidemie in unserer Zivilisation. Es muss schnell gehen, man darf nicht zu viel Zeit bei einer Sache verlieren, man muss weitermachen, vorwärtsdrängen! NEIN, NEIN, NEIN! Muss man nicht!

Und so habe ich erkannt, was der tödlichste Virus für einen Musiker ist. Es ist der gefährliche Virus „Drüber-Hudlus-Intensivus“.

Während die Korrektur meines Onkels meine Begeisterung am Klavierspiel etwas gebremst hat, hatte er dennoch Recht. Und ich will dir einige Beobachtungen und Gedanken dazu mitgeben, die dir helfen können, dein Üben zu verbessern.

  1. Genauigkeit bringt Selbstvertrauen und Geschwindigkeit.

Das ist Duncan Wort für Wort!

Du spielst eine Stelle genau.

Dann freust du dich, dass es so gut klappt und du bist stolz und mit der Zeit schaffst du es auch mit erhöhter Geschwindigkeit.

  1. Geschwindigkeit bringt kein Selbstvertrauen und infolge keine Genauigkeit.

Das ist der Umkehrschluss. Wenn du gleich auf Tempo übst, bist du frustriert, weil es nicht schön oder sauber klingt und du wurschtelst dich einfach durch das Stück durch, schlampig, ungenau, nicht zum Anhören. Und schließlich hörst du auf!

  1. Fünfmal drübergehudelt macht das Stück nicht schöner.

Viele Menschen üben zu schnell.

Und sie machen immer wieder dieselben Fehler.

Und sie sind auch nicht zufrieden.

Viele Stellen mögen ja ganz gut gehen, doch bestimmte Stellen klingen einfach nur „drübergehudelt“ und schlampig. Das ist eine Version von obigem Punkt 2.

  1. Eingelernte Fehler auszumerzen ist sehr mühsam.

Kennst du das? Du verspielst dich immer an derselben Stelle?

Extrem frustrierend.

Jetzt willst du diesen Fehler rauskriegen: schweißtreibende Schwerstarbeit.

Fazit: Langsam und präzise einüben, mit richtigem Fingersatz, mit dem richtigen Rhythmus und – ja, das auch! – mit dem richtigen Ausdruck!

  1. Durchkommen ist alles!

Ja, das kann schon seine Berechtigung haben: Du spielst mit einem anderen Musiker zusammen und ihr probt ein neues Stück. Was für ein tolles Gefühl, wenn man am Ende angekommen ist, trotz Auslassungen und Fehlern – ich will das gar nicht bestreiten.

Aber es ist nicht ÜBEN im eigentlichen Sinn des Wortes.

Ein Stück dreimal mit zu schnellem Tempo durchgespielt ist nicht wirklich Üben und macht die Fehler nicht „richtiger“.

  1. Die Überwindung der Ungeduld

Margit hat viel geübt, sie hat im Chor gesungen, sie hatte einen begnadeten Musiker als Freund.

Doch wenn sie sich verspielt, dann rast sie und drückt verstärkt auf die Tasten (hihi).

In so einem Fall ist es besser, einmal tief durchzuatmen, sich mal bequem aufs Klavierstockerl zu setzen, ruhig zu werden und die ganze Stelle halb so schnell zu spielen.

Natürlich können dahinter eingefleischte Verhaltensmuster stecken. Doch wenn das passiert, denk daran, dass die erste Fähigkeit eines Musikers und überhaupt eines jeden Menschen ist, einfach da zu sein, bequem und gelassen da zu sein.

Dann erst wirst du mit deiner Musik kommunizieren und Herzen berühren können.

  1. Du hast das Stück nie gelesen.

Der Hauptgrund fürs Drüberhudeln ist, weil du das Stück nie gelesen hast, und damit meine ich Note für Note, Symbol für Symbol, mit vollem Verstehen.
Meine Empfehlung: Setz dich ruhig hin und lies einmal, was du auf deinem Notenpult vor dir hast. Und dann spiel das Ganze ohne Ton und erst dann wieder mit Ton. Beobachte, wie das dein Spiel verändert hat!

  1. Rein mechanisches Spielen

Musik ist Kommunikation. Musik ist eine Sprache. Rein mechanisches Spielen wird der Musik nicht gerecht. Es hat beim Erarbeiten des Fingersatzes oder des Rhythmus schon seinen Sinn.

Doch achte darauf, so früh wie möglich dem Stück Kommunikation, Emotion, Ausdruck beizufügen.

Das wird auch helfen, lästiges Drüberhudeln und Frustrationen zu vermeiden, da die Aufmerksamkeit dann nicht aufs richtige Spielen gelenkt ist, sondern auf den Ausdruck.

  1. Weitere Aspekte

Es mag noch weitere Aspekte zum „Drüberhudeln“ geben.

Welche siehst du?

Schreib mir.

Liebe Grüße

Gerd

PS: Die vollständige Genesung von diesem Virus könnte beim nächsten Musik-Verstehen-Seminar mit Duncan Lorien passieren. Sieh dazu auf diese Seite: https://www.musikverstehen.net/